Aktion des Kreisschülerrats
Lichter gegen das Vergessen
Christa Neckermann und Lars Fischer
Mit einer virtuellen Lichterkette möchte der Osterholzer Kreisschülerrat an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 erinnern und damit auch an die Schrecken der Geschichte.
Osterholz-Scharmbeck. „Hier, versuch‘ es noch einmal!“ Gustav Grünthal, Vorsitzender des Osterholzer Kreisschülerrates, hält seinem Schulkameraden Jerik Dikkerboom jetzt schon zum dritten Mal seine Kerze entgegen. Tückische Windstöße am Platz der jüdischen Synagoge haben das geplante Foto mit brennender Kerze mehrfach sabotiert. Aber die beiden Schülervertreter geben nicht auf. Nicht beim Entzünden ihrer Kerzen – und auch nicht bei der Aufgabe, an die Schrecken der Geschichte zu erinnern.
„Die Kreisgruppe der Jusos und der SPD Osterholz-Scharmbeck hat in den vergangenen Jahren regelmäßig am 9. November mit einer Lichterkette an die Geschehnisse und Folgen der Novemberprogrome erinnert“, erklärt Gustav Grünthal. Da diese Aktion 2020 aus bekannten Gründen nicht stattfinden konnte, legte der Kreisschülerrat eine eigene Idee vor: „Am 27. Januar jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 76. Mal“, erläutert Gustav Grünthal. „Ich habe dem Kreisschülerrat daher vorgeschlagen, auf dieses Ereignis durch eine virtuelle Lichterkette aufmerksam zu machen. Ich freue mich sehr darüber, dass die Mitglieder des Kreisschülerrates meinen Vorschlag so einstimmig aufgenommen haben!“
Gerade dieser Teil der Erinnerungskultur dürfe nicht unter den Tisch fallen, waren sich die Schülervertreter einig. „Denjenigen, die die Stimmung anheizen und sagen, dass Geschichtsunterricht über das Dritte Reich und den Nationalsozialismus nun endlich mal ein Ende haben müsse oder gar langweilig sei, möchten wir klarmachen, dass Antisemitismus, Hetze und Rassismus nicht nur weiterhin Thema sind, sondern sogar noch zunehmen“, betont Grünthal. „Das ist kein Problem der Vergangenheit, sondern der Gegenwart.“ Den Schülervertretern sei wichtig, hier Position zu beziehen, macht auch Jerik Dikkerboom klar. „Wir wollen uns denjenigen entgegenstellen, die heute eine ähnliche Stimmung wie im Dritten Reich anheizen und ihnen sagen: Ihr seid nicht die Mehrheit!“
Es sei aber nicht genug, nur an die Schrecken der Vergangenheit zu erinnern und dafür Kerzen zu entzünden, es müssten auch Taten folgen, meinen die jungen Leute. Es sei die Aufgabe des Einzelnen, die Welt humaner zu gestalten. „Das Gedankengut dieser Leute darf nicht geduldet werden“, sagt der Vorsitzende des Kreisschülerrates und zitiert Willy Brandt: „Wer Unrecht duldet, stärkt es“.
Als Gustav Grünthal nun die Bilder aus den Schulen des Landkreises bekam, freute er sich besonders, dass sich so viele Schülerinnen und Schüler an der von ihm initiierten Aktion beteiligt hatten. „Das ist ein Zeichen von Gemeinschaft, das ich nicht erwartet hatte!“ Von den Berufsbildenden Schulen macht zum Beispiel Jill Soukup bei der virtuellen Lichterkette mit, Elena Bülter und Shawna Daniel vertreten die Kooperative Gesamtschule Hambergen, Jerik Dikkerboom, Sven Evering, Masha Groth, Gustav Grünthal, Hanna Pöhlmann und Marine Witte halten das Licht für die Integrierte Gesamtschule Osterholz hoch. An der Haupt- und Realschule Ritterhude hat Naveen Ali eine Kerze entzündet, im Lernhaus im Campus haben sich 16 Schülerinnen und Schüler an der Aktion beteiligt. Am Gymnasium Osterholz-Scharmbeck setzten Kimberley Breden, Bianca Brödys, Malte Cassens, Julius Messerschmidt, Finni Müller, Jana Porsch und Laurenz Taggruber ein Zeichen, und das Gymnasium Lilienthal ist mit elf Teilnehmerinnen und Teilnehmern vertreten.
Die Schülervertreter wünschen sich zudem, dass ihre Aktion wider das Vergessen nicht nach nur einem Tag verpufft. Sie denken daher darüber nach, die Fotos der Lichterkette der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es müsse allerdings noch geklärt werden, ob das über die Webseiten der jeweiligen Schulen geschehen könne, über die Seite des Landkreises, die ja den Kreisschülerrat „beherbergt“, oder ob es eine andere Lösung gebe, erläutert Gustav Grünthal.
„In Osterholz-Scharmbeck existiert ohne Frage rechtes Gedankengut, und daher findet es der Kreisschülerrat umso wichtiger, dass man sich erinnert. Das gehört zur Humanität des menschlichen Handelns dazu“, sagt der Vorsitzende des Kreisschülerrates. Bedauerlich finden es die jungen Leute allerdings, dass von offizieller Seite, also von seiten der Stadt oder des Landkreises, anlässlich dieses Gedenktages keine klare Position bezogen worden sei.
Online-Ausstellungen
Seit dem letzten Schuljahr ist der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945 fest in das Schulprogramm der Integrierten Gesamtschule (IGS) Osterholz installiert. „Der Auschwitz-Überlebende Elie Wiesel hat in einem Interview einmal gesagt, ‚Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer‘. So ist es für uns als Bildungseinrichtung wichtig, dass Schülerinnen und Schüler sich mit der deutschen und der europäischen Geschichte aktiv auseinandersetzen und verstehen, dass ein Leben in Frieden und
Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist“, macht Geschichtslehrerin Tanja König deutlich. Es zeige sich, dass Rassismus, Antisemitismus und Extremismus nicht 1945 endeten, sondern zunehmend an Aktualität gewinnen. Da eine Präsenzveranstaltung an der IGS coronabedingt derzeit ja nicht möglich ist, wird eine Auswahl der Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit diesem Thema in Form von Poetry Slams, Musik, Kurzgeschichten, Reden, Kurzfilmen, szenischen Interpretationen und Briefen auf der Homepage der IGS Osterholz-Scharmbeck unter der Adresse https://igs-ohz.de/ präsentiert.
Um
das Thema „Erinnern und Gedenken“ auch unter den derzeitigen Einschränkungen öffentlich und bewusst zu machen, gestaltete die Gemeinde Ritterhude statt einer Ausstellung in der unteren Rathaushalle eine digitale Leinwand, auf der die Exponate und Berichte der örtlichen Schulen ausgestellt sind. „In Ritterhude erinnern wir uns, um zu verstehen – um zu sehen – um zu handeln, dass die Geschichte von damals sich in keiner Form wiederholen darf“, hob Bürgermeisterin Susanne Geils in ihrem Grußwort hervor. Noch bis zum 30. Januar erhalten Interessierte Zugang zu der Ausstellung auf der Homepage der Gemeinde Ritterhude unter dem Punkt Leben – Aktuelle Meldungen: „Warum wir uns erinnern! Erinnerungskultur wird in Ritterhude partizipativ und digital erlebbar“.
Temporärer Gedenkort in Worpswede
Die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz jährt sich an diesem Mittwoch, 27. Januar, zum 76. Mal, seit 2005 ist dies der internationale Gedenkentag für die Opfer des Nationalsozialismus. Die Worpsweder Initiative „Nie wieder – Erinnern für die Zukunft – Gemeinsam gegen Rechts“ will auch an diesem Tag auf dem Rosa-Abraham-Platz an das Geschehen erinnern und der Opfer gedenken. Von dem ur
sprünglichen Plan einer Kundgebung mit Redebeiträgen haben die Organisatoren coronabedingt Abstand genommen. Aber es soll ein stilles Gedenken geben in Form von Kerzen, Blumen und Transparenten. Damit sich nicht zu viele Leute gleichzeitig auf dem Platz treffen, werden die Teilnehmer ab 17 Uhr nach und nach ihre Beiträge aufstellen, sodass gegen 19 Uhr der temporäre Gedenkort fertiggestellt sein soll. Bürger können sich daran beteiligen und ebenfalls Kerzen oder Blumen niederlegen. Die geplanten Beiträge sind unter http://erinnern-worpswede.de abzurufen. Dort findet sich auch ein Spendenaufruf für Amcha, eine nicht-staatlichen Organisation in Israel, die den Überlebenden der Shoah sowie deren nachfolgenden Generationen unter anderem bei der Bewältigung ihrer Traumata zur Seite steht.
Der Tag selbst steht unter dem Motto „Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen“ – ein Zitat des italienischen Auschwitz-Überlebenden Primo Levi. Das Gedenken richtet sich vor allem an die sechs Millionen ermordeten europäischen Juden, aber auch an die drei Millionen sowjetischen Rotarmisten, die als Kriegsgefangene starben; an 250.000 ermordete Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Opfer der Euthanasieprogramme, sogenannte „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“, wegen ihrer Homosexualität Verfolgte sowie die im politischen und alltäglichen Widerstand Getöteten. „Dieser Gedenktag ist ein Tag, an dem an die Verbrechen der Nationalsozialisten erinnert und aufgeklärt werden soll“, macht die Worpsweder Initiative deutlich. „Und es ist ein Tag, an dem wir auf den zunehmenden Antisemitismus, Rassismus und menschenverachtenden Rechtsextremismus aufmerksam machen wollen, auf die dynamisierende Funktion des Internets beim Schüren von Hass und Gewalt und antisemitischen Verschwörungsspinnereien.“
Quelle: https://www.weser-kurier.de/region/osterholzer-kreisblatt_artikel,-lichter-gegen-das-vergessen-_arid,1955958.html (erschienen am 27.01.2021)